Unternehmen

30. Juni 2025

Genossenschaften: Nachhaltig, erfolgreich, krisenresilient

Genossenschaftsexperte Dr. Johannes Blome-Drees im Interview

Lesezeit: 11 Min.

Sie sind nachhaltig, erfolgreich und krisenresilient. Und sie sind beliebter denn je, obwohl viele Menschen gar nicht so genau wissen, was eine Genossenschaft eigentlich ist. Experte Dr. Johannes Blome-Drees fordert daher: Genossenschaften gehören auf den Lehrplan! Ein Gespräch über große gesellschaftliche Fragen.

Herr Blome-Drees, wir haben zuletzt vor mehr als fünf Jahren über das Thema Genossenschaften gesprochen. Seither hat sich sicher viel getan.

Johannes Blome-Drees: Etwa 40 Prozent aller derzeit bestehenden rund 7.800 Genossenschaften in Deutschland haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten neugegründet, allein in den letzten drei Jahren hatten wir über 900 Neugründungen. Erfreulich finde ich, dass diese Genossenschaften nicht in traditionellen Bereichen gegründet wurden, wenn man den Wohnungsbereich einmal außen vor lässt. Neue Genossenschaften werden vor allem in den Bereichen Regionalentwicklung und lokale Daseinsvorsorge, Energie, Gesundheit und Soziales sowie mittelständische Unternehmenskooperationen gegründet.

Porträt von Johannes Blome-Drees. Der Hintergrund ist zum Teil weiß mit einer Backsteinwand und zum Teil rot.

Über:

Dr. Johannes Blome-Drees

Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?

Johannes Blome-Drees: Wir machen aktuell Fallstudien zu Kölner Gründungen aus der Zivilgesellschaft heraus, zum Beispiel zu einer Supermarkt-Neugründung namens Köllektiv eG. In Köln gibt es jetzt auch eine Klimaschutzgenossenschaft, die heißt „heuteStadtmorgen eG“. Oder ein Technoclub, die Krakeele eG. Weitere spannende Projekte gibt es im Bereich der Bürgerenergie, solidarischen Landwirtschaft, Seniorengenossenschaften und Plattformgenossenschaften, wo es häufig um kooperatives Wirtschaften für das Gemeinwohl geht. Es haben sich mittlerweile auch eine ganze Reihe interessanter Geschäftsmodelle im Bereich der Pflege entwickelt.

Gibt es weitere Lebensbereiche, in die Genossenschaften Einzug halten?

Johannes Blome-Drees: Es gibt zahlreiche Neugründungen in neuen Handlungsfeldern: im Freizeitbereich, im Bildungsbereich, im Kulturbereich oder im Mobilitätsbereich. Gerade schreibt ein Studierender eine Bachelorarbeit über Mobilitätsgenossenschaften.

Das sind, salopp gesagt, Fahrgemeinschaften?

Johannes Blome-Drees: Das fängt an mit Carsharing-Projekten der Energiegenossenschaften. Aber es gibt auch Mobilitätsgenossenschaften von und für Studierende oder Bürgerbusse. Wir sprechen hier von Infrastrukturgenossenschaften, die dem Erhalt und der Kontrolle bestehender privater und kommunaler Strukturen dienen.

Also überall da, wo ein privates Angebot zurückgefahren wird oder aber ein kommunales Angebot nicht mehr vorgehalten werden kann, da tun sich die Menschen zusammen, um diese Angebote zu erhalten.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Begünstigen Krisenphänomene die Entstehung von Genossenschaften?

Johannes Blome-Drees: Genossenschaften sind immer Krisengewinner gewesen. Wenn wir die Gründung von industriezeitlichen Genossenschaften betrachten, war es die soziale Frage, die die Pioniere angetrieben hat. Das war tatsächlich eine Innovation. Heute bewegen wir uns in einem ständigen Krisenmodus. Insofern wundert es einen nicht, dass neben dem Staat und dem Markt über andere Steuerungsprinzipien nachgedacht wird. Und dann kommt man auf die Genossenschaft mit ihrem Prinzip der freiwilligen Vereinbarung.

Die Genossenschaft ist eine Bedarfswirtschaft. Sie fördert ihre Mitglieder durch reale naturale Leistungen des genossenschaftlichen Geschäftsbetriebes. Das ist das Kennzeichen des genossenschaftlichen Förderprinzips.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Porträt von Johannes Blome-Drees. Der Hintergrund ist zum Teil weiß mit einer Backsteinwand und zum Teil rot.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Warum sollten Gründer die Rechtsform einer Genossenschaft wählen?

Johannes Blome-Drees: Zunächst einmal ist die Genossenschaft die einzige zweckgebundene Rechtsform im deutschen Gesellschaftsrecht. Sie ist von der Idee her bedarfsorientiert und nicht gewinnorientiert. Genossenschaften sind demokratisch verfasste Bedarfswirtschaften. Wir wissen, dass Gründer die Genossenschaft wählen, weil sie demokratisch verfasst wirtschaften wollen. Genossenschaften sind Chancen für diejenigen, die mitmachen. Sie funktionieren nur, wenn die Menschen sich an der Genossenschaft beteiligen. Um eine Genossenschaft zu gründen, benötigt man mindestens drei Personen. Diese brauchen den Willen und die Bereitschaft zum gemeinsamen, demokratischen Wirtschaften. Es geht um direkte leistungswirtschaftliche Förderung. Und die persönliche Haftung ist auf das eingezahlte Kapital beschränkt. Es geht in Genossenschaften nicht um Eigennutz vor Gemeinnutz und auch nicht um Gemeinnutz vor Eigennutz. Es geht um Eigennutz im Gemeinnutz. Genossenschaften sind Vorteilsgemeinschaften und keine Umverteilungsgemeinschaften.

Sind Genossenschaften nachhaltiger angelegt als andere Unternehmensformen?

Johannes Blome-Drees: Ich bin fest davon überzeugt, dass die genossenschaftliche Rechts- und Wirtschaftsform prädestiniert ist, um nachhaltig zu wirtschaften. Das sieht man allein schon daran, dass Genossenschaften übergenerativ sind. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Die industriezeitlichen Genossenschaften sind, wenn sie heute noch bestehen, über 175 Jahre alt und ein ganz starkes Indiz für ökonomisch nachhaltiges Wirtschaften. Wenn Sie in die Genossenschaft eintreten, zahlen Sie nominal Kapital ein. Wenn Sie austreten, bekommen Sie das eingezahlte Kapital wieder. Was in der Zeit erwirtschaftet wird, bleibt in der Genossenschaft. Genossenschaftliche Rücklagen bilden eine Art Stiftungskapital für zukünftige Mitgliedergenerationen. Außerdem gibt es einen kulturellen Kern, der sich bis heute nicht geändert hat: Demokratie, Solidarität, Subsidiarität, Menschenorientierung, Uneigennützigkeit. Uneigennützig meint, dass die Genossenschaft nicht ihre eigenen Interessen, sondern die Interessen der Mitglieder in den Vordergrund stellt. Genossenschaften sind aber nicht per se nachhaltig oder gemeinnützig. Wir brauchen Menschen in den Genossenschaften, die diese Ideen umsetzen, ernst nehmen und mit Sinn aufladen.

Genossenschaften sind kleine Antworten auf große gesellschaftliche Fragen.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Porträt von Johannes Blome-Drees. Der Hintergrund ist zum Teil weiß mit einer Backsteinwand und zum Teil rot.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Welche Rolle spielen die Genossenschaft bei der Förderung von lokaler Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit?

Johannes Blome-Drees: Genossenschaften ermöglichen ihren Mitgliedern selbstverantwortliches Handeln vor Ort. Sie sind lokale und regionale Keimzellen, mit denen ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen, die ihre Ursachen häufig in großräumigen oder gar globalen Entwicklungen und Zusammenhängen haben, begegnet werden kann. Genossenschaften sind kleine Antworten auf große gesellschaftliche Fragen.

Sehen Sie für die Mitarbeitenden Unterschiede, je nachdem, ob sie in einer Genossenschaft wie der REWE oder in einem Aktienunternehmern arbeiten?

Johannes Blome-Drees: Ich sehe da keinen Unterschied. Es mag Unterschiede geben, die sich aber nicht aus der Genossenschaft herleiten. Ausnahmen sind Produktivgenossenschaften, bei denen die Mitarbeitenden zugleich Eigentümer sind.

Wie können Genossenschaften im Wettbewerb mit kapitalorientierten Unternehmen bestehen?

Johannes Blome-Drees: Der Jahrhunderterfolg der Genossenschaften beruht darauf, dass sie menschenorientiert und nicht kapitalorientiert sind. Genossenschaften beziehen ihre Kraft aus Lokalität und unmittelbarer Erfahrbarkeit. Sie werden in ganz konkreten Lebensumständen gegründet, um ganz konkrete Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen. Natürlich haben wir auch große, internationale Player, aber die meisten Genossenschaften haben regionale und lokale Geschäftsbezirke, in denen sie für ihre Mitglieder wirtschaften. Das macht sie stark.

Sehen Sie Vorteile für genossenschaftlich strukturierte Handelsunternehmen gegenüber anderen Formen, zum Beispiel der AG?

Johannes Blome-Drees: Ich glaube tatsächlich, was Genossenschaften wie REWE und Edeka stark macht, ist ihre Hybridität. Sie verbinden zwei scheinbar unvereinbare Merkmale miteinander: Größe und Kleinheit. Genossenschaften sind Selbsthilfeorganisation mit eingerichtetem Geschäftsbetrieb. Zentrale betriebswirtschaftliche Funktionen werden aus den Mitgliederbetrieben auf einen gemeinsam errichteten Geschäftsbetrieb übertragen, während die Mitglieder selbstständig vor Ort agieren. Diese Selbstständigkeit ist ein großer Vorteil. Nur die Mitglieder können vor Ort entscheiden, was am besten zu tun ist.

Genossenschaften vereinen wie kein anderer Unternehmenstyp wirtschaftliches und nachhaltiges Handeln. Nachhaltigkeit gehört zur genossenschaftlichen DNA.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Porträt von Johannes Blome-Drees. Der Hintergrund ist zum Teil weiß mit einer Backsteinwand und zum Teil rot.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Wie schafft es das Management einer Genossenschaft, die Begeisterung der Mitglieder wachzuhalten?

Johannes Blome-Drees: Genossenschaftliches Unternehmertum zeichnet aus, dass es Menschen gibt, die überzeugt sind von der Genossenschaftsidee und diese auch als Maßstab ihres unternehmerischen Handelns nehmen. Genossenschaftliches Wirtschaften ist gemeinsames, ökonomisch nachhaltiges Wirtschaften, was man sehr gut erkennen kann an der mit Abstand niedrigsten Insolvenzquote in Deutschland. Das hat vielerlei Gründe: die verbundwirtschaftliche Zusammenarbeit, die Beratungs- und Betreuungsleistung der Genossenschaftsverbände, gerade auch im Gründungsbereich. Es gründen sich vielleicht weniger. Aber diejenigen, die sich gründen, die haben eine Gründungsprüfung durchlaufen.

Würden Sie sagen, dass Genossenschaften bei jungen Leuten im Trend liegen?

Johannes Blome-Drees: Ganz generell würde ich das nicht sagen. Aber wir hier an der Uni haben einen großen Zulauf an Studierenden, der ist sehr viel größer als in der Vergangenheit. Das Interesse an einem alternativen Wirtschaften ist groß.

Genossenschaften sind Schulen der Demokratie, da alle Mitglieder bei grundlegenden Entscheidungen gleichberechtigt mitbestimmen können.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Porträt von Johannes Blome-Drees. Der Hintergrund ist zum Teil weiß mit einer Backsteinwand und zum Teil rot.

Dr. Johannes Blome-Drees, Lehrbeauftragter für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln

Der FC St. Pauli und Schalke haben Genossenschaften gegründet und damit Neuland im Profifußball betreten. Was halten Sie von der Idee, die Vereinsmitglieder zu Genossen zu machen?

Johannes Blome-Drees: Die Genossenschaft ist partizipativ, sie ist demokratisch, sie ist transparent im Hinblick auf die Kapitalzufuhr, und sie ist unabhängig. Auf Schalke können nur die Vereinsmitglieder Genossen werden. In Sankt Pauli haben die das für alle geöffnet. Diese Mitglieder sollen sich an den Stadien beteiligen, und ihnen wird eine Ausschüttung in Aussicht gestellt. Aber sie sprechen auch von einer emotionalen Rendite, die bei der Football Cooperative Sankt Pauli im Mittelpunkt stehen soll: Gemeinsam mit euch wollen wir zeigen, dass eine andere Finanzierung möglich ist – für euch und für uns. Für alle, die an einen anderen Fußball glauben. Bei Schalke dient diese Form der Finanzierung über die Mitglieder dazu, die Schulden abzubauen.

Mit Blick auf die Bundespolitik: Welche Wünsche haben Sie an die neue Bundesregierung? Welche Rahmenbedingung müssten aus Ihrer Sicht im Sinne der Genossenschaften angepasst oder geändert werden?

Johannes Blome-Drees: Die Genossenschaften wollen nicht bevorteilt werden, aber sie wollen auch nicht benachteiligt werden. Wenn man zum Beispiel über Gründungsfinanzierung nachdenkt, stellt man fest, dass die öffentlichen Förderprogramme für genossenschaftliche Neugründungen ungeeignet sind. Die Gründungsfinanzierung wäre etwas, das man wirklich verbessern müsste. Ein weiterer Punkt ist das Kenntnisproblem in der Gesellschaft. Viele finden Genossenschaften gut, aber sie wissen nicht, was Genossenschaften sind. Und auch vielen Gründern ist diese Rechtsform nicht bekannt, ebenso wenig den Gründungsberatern, den freien Berufen, den Juristen, den Wirtschaftsprüfern, den Steuerberatern und den Unternehmensberatern. Man müsste im Bildungsbereich ansetzen, vor allem in den Hochschulen. Die Juristen beklagen das auch. Es gibt außerhalb der Verbände nur eine Handvoll Juristen in Deutschland, die sich wirklich mit Genossenschaften beschäftigen.

Genossenschaften für eine bessere Welt

  • Eine Milliarde Menschen weltweit sind Mitglieder in Genossenschaften.

  • In Deutschland sind 22 Mio. Menschen Mitglieder von Genossenschaften, die Mehrzahl in Genossenschaftsbanken.

  • Genossenschaften bieten über 100 Millionen Menschen sichere Arbeitsplätze.

Die Vereinten Nationen haben 2025 als Internationales Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Damit soll die Aufmerksamkeit auf die weltweite Bedeutung von Genossenschaften für die Erreichung der 17 Ziele der Weltgemeinschaft für nachhaltige Entwicklung gerichtet werden. Unter dem Motto „Cooperatives Build a Better World“ soll auf die Bedeutung von Genossenschaften für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Ländern hingewiesen werden. Nach Angaben der UNO gibt es rund eine Milliarde Genossenschaftsmitglieder in über 100 Ländern. UN-Generalsekretär António Guterres betont in seinem Grußwort an die internationale genossenschaftliche Gemeinschaft: Genossenschaften sind die Lösung für viele globale Herausforderungen unserer Zeit. Sie tragen entscheidend dazu bei, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Weltgemeinschaft zu erreichen. Sie fördern regionales Unternehmertum, ermöglichen den Zugang zu Märkten und bekämpfen weltweit Armut und soziale Ausgrenzung. Genossenschaften gestalten eine bessere Welt.

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