Im nächsten Jahr werden die Tafeln in Deutschland 30 Jahre alt; die erste Tafel wurde 1993 in Berlin gegründet. Mittlerweile gibt es fast 1.000 Tafeln in Deutschland, die weiterhin hauptsächlich spendenfinanziert und zu 90 Prozent ehrenamtlich Lebensmittel retten und an Menschen weitergeben, die von Armut bedroht oder betroffen sind. Mit Partnern wie der REWE Group unterstützen wir gerade circa zwei Millionen Menschen in Deutschland.
Es gab Zeiten da wurde gesagt, es solle die Tafeln nicht geben; dass wir Armut zementieren und den Staat aus der Verantwortung nehmen. Es gibt auch immer noch viele Stimmen, die sagen, dass es traurig ist, dass es uns gibt. Wir sahen und sehen die Sache anders. Zum einen sind Tafeln eine Erfolgsgeschichte, ein Paradebeispiel dafür, dass Privatpersonen einen Unterschied machen können und dass Solidarität gelebt werden kann. Zum anderen geben wir uns nicht damit zufrieden, nur auf Veränderung zu warten, sondern wir engagieren uns, während wir gleichzeitig in Gesellschaft und Politik auf Themen wie Lebensmittelverschwendung und soziale Ungleichheiten aufmerksam machen.
Besonders rund um den Internationalen Tag gegen Lebensmittelverschwendung am 29. September freuen wir uns, dass Lebensmittelrettung eine Mission ist, die mittlerweile in der Breite der Gesellschaft angekommen ist. Auch die Bundesregierung hat sich im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie dazu bekannt, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbieren zu wollen. Als ältester und größter Lebensmittelretter im Land ist es schön zu sehen, wenn auch andere sich dafür einsetzen, dass Lebensmittel ihrem eigentlichen Zweck – dem Verzehr – zugeführt werden und dass wir nachhaltig mit unseren Ressourcen umgehen.
Mit Besorgnis beobachte ich allerdings die aktuelle sozialpolitische Spannung, die durch die Corona-Krise, Inflation und den Krieg in der Ukraine stärker denn je hervortritt. Als Tafeln retten wir nicht nur Lebensmittel, wir geben sie an bis zu zwei Millionen Menschen in Deutschland weiter. Deshalb spüren wir immer direkt und hautnah, wenn die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Lage sich verändert. In den letzten Jahren mussten wir beobachten, wie Menschen, die zu Risikogruppen gehören, während der Corona-Pandemie mit ihren Problemen allein gelassen wurden und dass viele Menschen in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit abgerutscht sind. Wir sehen derzeit, dass Menschen, die ihre Rechnungen vorher gerade noch so mit ihrem Monatseinkommen decken konnten, jetzt kein Geld mehr haben, um zu heizen. Wir haben es ausgehalten, als Behörden Geflüchtete aus der Ukraine an Tafeln verwiesen haben, weil sie ihrer Aufgabe als Anlaufstelle und Unterstützer nicht schnell genug nachkommen konnten.
Zum Internationalen Tag gegen Lebensmittelverschwendung und in Vorbereitung auf unser 30-jähriges Jubiläum fordere ich deshalb zwei Dinge. Erstens muss der Staat sich daran beteiligen, was Tafeln aktuell hauptsächlich mit der finanziellen Unterstützung von Unternehmen leisten. In diesen krisenreichen Zeiten kann es nicht sein, dass sich der Staat auf Zivilgesellschaft und Wirtschaft verlässt. Einzelne, zeitlich beschränkte Projektförderungen reichen hier nicht aus. Außerdem ist es essenziell, das soziale Potential von Lebensmittelrettung anzuerkennen und zu nutzen. Es ist immer gut, wenn Lebensmittel vor der Verschwendung gerettet werden. Es ist noch besser, wenn diese geretteten Lebensmittel dann auch noch dafür genutzt werden können, armutsbetroffene Menschen zu unterstützen.