Politik

31. Oktober 2024

„Wir müssen endlich von der reinen Wertschöpfungskette zu einer Wertschätzungskette kommen“

Emilie Bourgoin kennt agrarpolitische Debatten aus erster Hand: Als Group Director Public Affairs verantwortet sie die politische Arbeit der REWE Group. Sie hatte auch die Idee für das Kompetenzzentrum Landwirtschaft, welches eine nachhaltige Stärkung der heimischen Agrarbranche zum Ziel hat. In unserem Format „Stimme des Monats” fordert sie einen Maßnahmen-Mix aus zielgerichteter Regulierung, Branchen-Initiativen und innovativen Vertragsgestaltungen.
Lesezeit: 7 Min.

Liebe Leser:innen,

Sie alle kennen sicherlich die zugespitzten Schlagzeilen: zwischen Landwirt:innen am Nachhaltigkeitspranger, Kritik am Lebensmitteleinzelhandel und Bevormundung der Verbraucher:innen ist es für uns oftmals schwierig, eine sachliche Debatte zu führen. Die Zukunft der Landwirtschaft ist und bleibt ein hoch emotionales Thema. Denn es geht um nicht weniger als Ernährungssouveränität und die Transformation der Branche, um Versorgungssicherheit und faire Preise.

Landwirt:in ist kein gewöhnlicher Beruf. Man arbeitet lange und leidenschaftlich an der Herstellung bestimmter Produkte und möchte von diesen auch leben und den eigenen Hof ohne Existenzängste an die nächste Generation übergeben können. Die Realität sieht leider viel zu oft anders aus. Die Herausforderungen in der Landwirtschaft sind immens und lassen sich nicht mit zwei Gesetzen mal eben so lösen. Bei der Suche nach Lösungen gibt es ihn leider nicht, den einen Königsweg. Es gibt nicht DIE Lösung, denn genauso wenig gibt es DIE Landwirtschaft oder DEN Handel. Es ist ein komplexes Unterfangen und es braucht Erzeuger:innen, Verarbeiter:innen, Politik, Verbraucher:innen und Handel, die alle ihren Beitrag leisten müssen. Ich bin fest davon überzeugt: Nur ein Maßnahmen-Mix, ein Zusammenspiel von Regulierung, Branchen-Initiativen und neuartigen Vertragsgestaltungen kann diesen großen Wandel herbeiführen.

Auf den Handel wird in der Debatte um die Zukunft der heimischen Landwirtschaft immer wieder gerne gezeigt – etwa mit Forderungen nach mehr Preistransparenz oder einem klareren Bekenntnis zur heimischen Landwirtschaft. Ich kenne diese Debatten aus meiner täglichen Arbeit nur zu gut. Und ich bin sehr froh sagen zu können, dass die REWE Group ihre Verantwortung in der Wertschöpfungskette kennt und wahrnimmt. Es ist unsere klare Haltung, dass Landwirt:innen keine systematischen Verluste machen dürfen, während die anderen Akteure in der Lieferkette – inklusive des Handels – Gewinne machen. Ich bin froh, dass dieses Bekenntnis sowohl von unserer Kaufmannschaft als auch vom Vorstand geteilt wird.

Fest steht: Im Mittelpunkt aller großen Diskussionen in diesem Bereich steht die Frage nach dem „fairen Preis“. Dabei stehen wir als REWE Group vor der Herausforderung, unterschiedlichen Interessen gerecht werden zu müssen. Der von Verbraucher:innen und Politik formulierte Anspruch an uns ist: niedrige Verkaufspreise, um jedermann Zugang zu hochwertigen Lebensmitteln zu gewähren. Im scheinbar paradoxen Widerspruch dazu sollen die Erlöse für die Erzeuger:innen maximal hoch sein. Eine Diskussion, die vor allem im preissensiblen Deutschland kontrovers geführt wird.

Doch diese Rechnung kann nicht aufgehen. Denn in der Regel haben wir als Lebensmitteleinzelhandel keine direkten Geschäftsbeziehungen zu einzelnen Landwirten und somit keinen unmittelbaren Einfluss auf deren Entgelte. Es braucht also die Eigenverantwortung jedes einzelnen Akteurs in der Wertschöpfungskette. Wie also kann eine Lösung aussehen? Mein Appell lautet: Wir müssen endlich von der reinen Wertschöpfungskette zu einer Wertschätzungskette kommen! Genau mit dieser Vision haben wir das Kompetenzzentrum Landwirtschaft gegründet , gemeinsam mit Praktiker:innen aus Erzeugung, Wissenschaft und Landwirtschaft. Dennoch werden wir als REWE Group die Transformation der Landwirtschaft nicht alleine stemmen können. Wir brauchen den oben beschriebenen Mix unterschiedlichster Maßnahmen. Dazu gehören ein regulatorischer Rahmen aus Berlin und Brüssel, Brancheninitiativen wie die Initiative Tierwohl oder die Haltungsformkennzeichnung sowie eigene Unternehmensvorstöße. So haben wir als REWE Group in einem Pilotprojekt als erster Händler einen „Drei-Parteien-Vertrag“ umgesetzt, der die bisherige Vertragsgestaltung revolutioniert: Erstmals sitzen Landwirt:innen als gleichberechtigte Partner am Verhandlungstisch, sodass unter Einhaltung der rechtlichen Grenzen Transparenz zwischen den Vertragspartnern Handel – Industrie – Landwirtschaft geschaffen wird.
Das ist in dieser Form ein Novum im deutschen Handel und eine große Errungenschaft für die beteiligten Landwirt:innen. Ich bin besonders stolz darauf, dass wir darüber hinaus fünf konkrete Kriterien festgelegt haben, die den Vertrag auf eine noch solidere Basis stellen. Dazu gehören längere Vertragslaufzeiten, Preisindikatoren, eine Revisionsklausel oder auch die für uns selbstverständliche Honorierung zusätzlicher Nachhaltigkeitskriterien. Damit schaffen wir mehr Planungssicherheit und Stabilität und sind auch auf Marktschwankungen vorbereitet. Trotz der aufwändigeren Vertragsgespräche: Wir wollen die Anzahl dieser Drei-Parteien-Verträge weiter ausbauen, weil wir davon überzeugt sind, dass dies zukunftsweisende Lösungen sind.

Aber auch hier gilt: Solche Projekte sind der richtige Ansatz, um den Herausforderungen der Landwirtschaft zu begegnen, aber sie allein werden den Markt nicht verändern. Dieser Illusion sollten wir uns nicht hingeben. Wir werden Drei-Parteien-Verträge nicht bei allen Geschäftsbeziehungen umsetzen können. Auf einem Thema zu beharren, wäre fatal und verantwortungslos. Aber ja, es braucht mehr Transparenz beim Thema Preisbildung, ohne kartellrechtliche Fragen außer Acht zu lassen. Ansätze wie eine Preisbeobachtungsstelle sind aus meiner Sicht Vorschläge, die es sich zu diskutieren lohnt, um aus dem „Blame-Game“ der Vergangenheit herauszukommen.

Über 33.000 Erzeuger arbeiten allein in Deutschland mit REWE und PENNY zusammen. Diese Partnerschaften bestehen teilweise seit Jahrzehnten. Auch weil die Zusammenarbeit mit einer genossenschaftlichen Organisation wie der REWE Group anders ist, davon bin ich überzeugt.

Emilie Bourgoin, Group Director Public Affairs
Porträt von Emilie Bourgoin
Emilie Bourgoin, Group Director Public Affairs

Preise sind gerade in Deutschland ein schwieriges Thema. Die Verbraucher:innen sind hierzulande enorm preissensibel. Gleichzeitig werden Agrarerzeugnisse in Deutschland unter höchsten Standards produziert. Einfach nur die Preise zu erhöhen, wie es die Politik oft fordert, löst die Probleme der Landwirtschaft nicht. Wer das fordert, hat nicht die gesamte Wertschöpfungskette im Blick. Es braucht vielmehr Transparenz und eine Systematik, die das Mehr auch bei Landwirt:innen spürbar ankommen lässt. Für uns als REWE Group gilt schon lange der Leitsatz: Jeden Mehrwert, den wir von unseren Lieferant:innen fordern, vergüten wir entsprechend. Am Ende stimmen die Kund:innen aber auch an der Kasse ab. Wer regionale Strukturen fördern will, der muss dies auch entsprechend honorieren. Projekte, die die Landwirtschaft unterstützen sollen, funktionieren am Ende nur dann, wenn die Kund:innen hier auch zugreifen.

Über 33.000 Erzeuger arbeiten allein in Deutschland mit REWE und PENNY zusammen. Diese Partnerschaften bestehen teilweise seit Jahrzehnten. Auch weil die Zusammenarbeit mit einer genossenschaftlichen Organisation wie der REWE Group anders ist, davon bin ich überzeugt. Wir wissen, was es heißt, die Interessen von Einzelnen zu vertreten oder generationsübergreifend zu wirtschaften. Dies sind Werte, die wir mit der Landwirtschaft teilen. Auch deshalb ist es immer unser Anspruch, gemeinsam mit Erzeugern Projekte zu entwickeln, die das Potential haben, von der ganzen Branche getragen und dupliziert zu werden. Nur wenn der gesamte Handel mitzieht, kann ein Wandel in der Breite erreicht werden. Diesen Ansatz verfolgen wir auch mit dem Kompetenzzentrum Landwirtschaft.

Während der Covid-Pandemie oder als zu Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine die Lieferketten gestört waren, haben wir bewiesen, dass wir resilient und verlässlich zusammenarbeiten und gemeinsam die Versorgung sicherstellen können. Diese Erfahrungen geben mir die Hoffnung, dass wir auch die nächsten herausfordernden Zeiten gemeinsam meistern werden. Wir alle sind aufeinander angewiesen.

Ihre Emilie Bourgoin

Porträt von Emilie Bourgoin
Über:
Emilie Bourgoin
Group Director Public Affairs

Emilie Bourgoin ist Group Director Public Affairs und Vorsitzende des Kompetenzzentrum Landwirtschaft der REWE Group.