Emilie Bourgoin: Lieber Herr Pilling, Sie und Ihr Team haben bereits Anfang März die ersten Hilfstransporte in die Ukraine bringen können. Wie sieht die konkrete Arbeit der German Food Bridge seit dem 24. Februar dieses Jahres aus?
Emilie Bourgoin: Lieber Herr Pilling, Sie und Ihr Team haben bereits Anfang März die ersten Hilfstransporte in die Ukraine bringen können. Wie sieht die konkrete Arbeit der German Food Bridge seit dem 24. Februar dieses Jahres aus?
André Pilling: Als am 24. Februar Russland einen großangelegten Überfall auf die Ukraine begann, stand auch das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) geförderte bilaterale Kooperationsprojekt Agritrade Ukraine (ATU) vor einer völlig neuen Situation und neuen Herausforderungen. Das Team nutzte die guten Kontakte zu deutschen Lebensmittelhändlern um Spenden einzuwerben. Aufbauend auf dieser Initiative wurde bereits ab Anfang März vom BMEL eine Koordinierungsstelle für Lebensmittelspenden (KoSt)/ German Food Bridge eingerichtet, die in Maßnahmen des Projektes ATU eingebettet ist.
Emilie Bourgoin: Was ist die Aufgabe der Koordinierungsstelle?
André Pilling: Die KoSt wurde mit dem Ziel geschaffen, Nahrungsmittelhilfe rasch dorthin zu bringen, wo sie in der Ukraine am dringendsten benötigt wird und damit einen Beitrag zur Linderung der durch den Krieg verursachte humanitäre Katastrophe zu leisten. Seit dem 22. März werden der KoSt durch die Handelskammer Hamburg unentgeltlich Büroräume zur Verfügung gestellt, was dem Team die Arbeit ungemein erleichtert.
Die KoSt erfasst offizielle Anfragen aus der Ukraine und Spendenangebote von Unternehmen, Betrieben und Initiativen der deutschen Lebensmittel- und Ernährungswirtschaft. Da ein Teil der Spender über keine eigene Logistik verfügt, organisiert die KoSt in Zusammenarbeit mit der DB Cargo den für die Spender kostenfreien Transport der Güter in polnische Zwischenlager. Von dort aus werden die Spenden per Bahn weitertransportiert und an die ukrainische Seite übergeben.
Emilie Bourgoin: Wie geht es dann vor Ort weiter?
André Pilling: 75 Prozent der eingegangenen Spenden gehen an staatliche Behörden und 25 Prozent an NGOs in der Ukraine. Mittlerweile gibt es Kooperationen mit über 48 NGOs, von denen einige auch Logistikleistungen übernehmen können. Mit deren Unterstützung wurden deutsche Spenden bereits erfolgreich nach Mykolaiv, Odessa, Charkow, Donetsk, Luhansk, Irpen, Bucha geliefert.
Eine wichtige Aufgabe der KoSt ist es auch, Informationen über das Projekt weiterzugeben und so neue Spender zu gewinnen, um damit der stetig wachsenden Zahl an Anfragen nachzukommen.
Seit der ersten Lieferung am 2. März bis zum 30. Juni wurden 389 Lastwagen in verschiedene Teile der Ukraine geschickt und 11.307 Lebensmittelpaletten geliefert. 65 Spender-Organisationen haben sich bisher beteiligt.
Anzahl, Umfang und Namen der Spender – sofern gewünscht – werden auf der Website des BMEL veröffentlicht und regelmäßig aktualisiert.
Emilie Bourgoin: Wie kommen die Lebensmittelspenden dann in die Gebiete in der Ukraine? Erreichen Sie weiterhin alle Gebiete im Land?
André Pilling: Die KoSt arbeitet hauptsächlich über zwei Distributionsstränge. Da ist zum einen der staatliche Kanal, mit welchem wir seit der ersten Lieferung kooperieren. In Abstimmung mit den offiziellen ukrainischen staatlichen Institutionen – insbesondere dem ukrainischen Landwirtschaftsministerium und dem ukrainischen Wirtschaftsministerium – werden unsere Hilfsgüter an ein zentrales Warenlager in Polen angeliefert und von dort in ukrainische Eisenbahn-Container verladen. Diese werden dann über die Grenze von der Westukraine aus in die einzelnen Gebiete transportiert.
In Kooperation mit der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer (AHK) und der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK) haben wir seit dem 22. April ein weiteres Logistikzentrum (Hub) in der Nähe der Polnisch-Ukrainischen Grenze eröffnet. Über diesen Hub verteilen wir Güter über Lkw und Kleintransporter an NGOs, welche dann zum Teil direkt und zum Teil über weitere Verteilerpunkte die Waren in alle Gebiete der Ukraine transportieren, aus denen uns gegenüber Lebensmittelbedarfe bekanntgemacht werden. Wir erhalten aktuell aus 15 Regionen in der Ukraine Anfragen, in welche wir Lieferungen versenden können. Die besetzten Gebiete, wie beispielsweise Mariupol, sind hiervon ausgenommen, da wir dort keine belastbaren Informationen über den Verwendungszweck erhalten können.
Emilie Bourgoin: In welchem Umfang haben Sie bereits Spenden erhalten? Welche Waren werden derzeit am dringendsten benötigt?
André Pilling: Bisher haben wir über 389 Lkw an Spenden erhalten. Nach wie vor werden insbesondere sofort verzehrfähige, nicht kühlpflichtige Lebensmittel benötigt, wie Konserven jeglicher Art, Babynahrung, Brot mit langer Haltbarkeit und Snacks – zum Beispiel Nüsse, Chips, Protein oder Schokolade. Getränke wie Wasser, Saft, Tee und (Instant-)Kaffee werden ebenfalls gebraucht, genauso wie Grundnahrungsmittel – Zucker, Salz, Mehl, Reis Bulgur, Hafer, Couscous und Speiseöl. Aber auch frisches Obst und Gemüse mit langer Haltbarkeit.
Die Nahrungsmittel können wir bei Bedarf auch von den Spendern als komplette Lkw-Ladungen abholen lassen, falls keine eigene Logistik zur Anlieferung an die Hubs in Polen möglich ist.
Emilie Bourgoin: Sie stehen tagtäglich in sehr engem Austausch mit Ihren Kolleg:innen in der Ukraine. Wie nehmen Sie die Lage vor Ort wahr?
André Pilling: In meinem Team arbeiten auch drei Ukrainerinnen: eine in unserem Büro in Hamburg, eine in Polen und eine in Kiew. Sie haben alle vielfältige Kontakte zu ihren Verwandten und Bekannten in der Ukraine und berichten mir täglich über die großen Entbehrungen, unter denen viele Menschen dort leiden, besonders Frauen und Kinder.
In unserem Hub in Dębica, an der polnisch-ukrainischen Grenze hatte ich viele Gespräche mit Vertreterinnen und Vertreter der NGOs, mit denen wir zusammenarbeiten. In diesen Gesprächen wurde immer wieder betont, welche Not in den besonders vom Krieg betroffenen Regionen herrscht und wie dankbar die Menschen dort über jede Art von Hilfe sind. Dies gilt insbesondere auch für die hohe Zahl der Geflüchteten und Vertriebenen in der Ukraine.
Seit dem 24. Februar haben mehr als 15,7 Millionen Ukrainer dringend humanitäre Hilfe und Schutz benötigt. Sechs Millionen Menschen verließen das Land, weit mehr als sieben Millionen wurden innerhalb der Ukraine vertrieben. In Saporischschja zum Beispiel gibt es jetzt 130.000 Flüchtlinge aus östlichen Teilen, die Unterstützung brauchen. Die gleiche Situation besteht in fast allen Regionen des Landes.
Emilie Bourgoin: Lieber Herr Pilling, wie kann die Arbeit Ihrer Koordinierungsstelle konkret unterstützt werden?
André Pilling: Eine wichtige Form der Unterstützung leisten Sie, in dem Sie uns eine Plattform geben, um über die German Food Bridge und unsere Lebensmittelspenden für die Menschen in der Ukraine berichten und über das große Engagement ihrer bereits zur Verfügung gestellten Spenden. Unsere German Food Bridge lebt von den Spenden und wir danken Ihnen und allen beteiligen Unternehmen für diese Unterstützung.
Wenn wir noch mehr Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels und der Ernährungswirtschaft erreichen und diese überzeugen können, unser Projekt mit Spenden zu unterstützen, können wir die Lieferungen in die Ukraine stabil halten und im Idealfall noch ausbauen. Alle Kontaktdaten finden sich auf der Website des BMEL – Internationales – German Food Bridge für Lebensmittelhilfen der Ernährungswirtschaft in die Ukraine und mein Team und ich werden alle Anfragen gern beantworten.
Die Koordinierungsstelle (German Food Bridge) unterstützt Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels und der Ernährungswirtschaft sowie weitere Organisationen, die einen Beitrag zur Versorgung der Menschen in der Ukraine mit Lebensmittelhilfen leisten möchten. Die Koordinierungsstelle ist eingebettet in Maßnahmen des bilateralen Kooperationsprojektes Agritrade Ukraine des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL).
Projektleiter des Projekts Agritrade Ukraine des Bilateralen Kooperationsprogrammes (BKP) des BMEL
André Pilling, 43, Diplom-Kaufmann (FH) ist seit über 20 Jahren im Lebensmittelhandel in verschiedenen Funktionen tätig und seit 2017 Projektleiter des Projektes Agritrade Ukraine des Bilateralen Kooperationsprogrammes (BKP) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Die allgemeine Expertise im Handel hat er sich durch mehrjährige Erfahrung als Einkäufer in den Zentralen führender deutscher Handelsketten, als Exportleiter in der Lebensmittelindustrie und dem Aufbau nachhaltiger Start-Ups (National Fair Trade Award 2010) erworben.
Während seiner fast 6-jährigen Tätigkeit in der Ukraine nahm er an über 100 Veranstaltungen in 21 Oblasten der Ukraine und zahlreichen Messen teil und organisierte im Projektrahmen sieben Deutsch-Ukrainische Lebensmittelforen. Er ist seit 2018 im Vorstand der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK) und Leiter des dortigen Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft.
Im Februar 2022 musste er das Land aufgrund des russischen Angriffs verlassen und leitet seitdem die in Maßnahmen des ATU Projektes eingebettete Koordinierungsstelle für Lebensmittelhilfen der Ernährungswirtschaft in die Ukraine /German Food Bridge des BMEL.